1914-1918 – Die Entwicklung der Dinge

1.7.1916 – Abschuss eines deutschen Fesselballons. Trommelfeuer von morgens bis abends. Die Lage spitzt sich zu.

/ / An der Somme 30.6.16-3.3.17

6 Uhr erwache ich. Der Schlaf hat mich gestärkt. Vom Kriege habe ich trotz seiner Nähe nichts mehr gespürt. Dennoch hält das Artilleriefeuer unvermindert an und steigert sich gegen 10 Uhr vormittags zu unerhörter Heftigkeit.
Es kracht, brummt und rollt — es kocht, zischt und grollt, als wären wir dem Weltenuntergang nahe.
Auch in der Luft herrscht reges Leben. Kurz vor uns ist ein deutscher Fesselballon aufgestiegen. Er muss den Engländern ein Dorn im Auge sein, denn nicht lange dauert es, bis sich der erste feindliche Flieger einfindet. Im Nu ist er unmittelbar über dem Ballon und lässt plötzlich ein Büschel von Leuchtkugeln – mindestens 100 an der Zahl – herabfallen, die die Ballonhülle in Brand setzen sollen. Der Versuch misslingt.
Kaum eine halbe Stunde ist ein zweiter Flieger da. Er schießt aus großer Höhe auf den Ballon zu. Diesmal kommt es mir vor, als würde von ihm aus ungezählten Büchsen weißer Streusand ausgeworfen. Auch dieser Angriff bleibt erfolglos, was aber die Engländer nicht hindert, noch vier andere kurz hintereinander zu unternehmen, ohne damit ihr Ziel zu erreichen.
Durch die Erfahrung gewitzigt, suchen wir die Angriffe so gut wie möglich abzuwehren. Der Ballon wird jedesmal schnell heruntergezogen. Außerdem sind auch unsere Flugzeugabwehrkanonen hinter den feindlichen Fliegern her wie der Teufel hinter der armen Seele.
Für uns Zuschauer bedeutet diese aufregende Hetze einen recht willkommenen Zeitvertreib. Ein Kamerad neben mir hat ganz recht, wenn er sagt: “Donnerwetter, da macht sich der Eintritt wirklich bezahlt!”
Im Handumdrehen ist es 12 Uhr mittags geworden. Das Artilleriefeuer wütet in alter Stärke. Es ist, als wären die Geschütze nicht mehr aufzuhalten. Die Lage ist nach allem, was ich erfahre, für uns sehr ernst.

Halb 3 Uhr nachmittags: eine Überraschung! Auf den immer noch vor uns stehenden Fesselballon stürzt sich unerwartet aus großer Höhe – mit abgestelltem Motor, so dass kein Mensch vorher etwas gemerkt hatte – abermals ein feindliches Flugzeug.
Diesmal hat es Glück. Die von ihm ausgeworfenen Feuerstrahlen (man spricht von brennender Flüssigkeit) setzen den Ballon in Brand — und in wenigen Minuten sackt die Hülle mit dem ebenfalls brennenden Korbe in die Tiefe. Am Himmel bleibt nur eine kerzengerade aufsteigende schwarze Rauchsäule zurück, die bald in alle Winde zerflattert. Schade!
Soviel ich nachträglich höre, war der Ballon über Mittag glücklicherweise unbemannt. Das tröstet uns einigermaßen über den Verlust hinweg. Weiter soll aber der englische Flugapparat deutsche Abzeichen getragen haben, so dass es uns unmöglich war, ihn als Feind rechtzeitig zu erkennen und zu bekämpfen. Das ist eine Schufterei und verwandelt die Achtung, die ich dem Führer zunächst für seine Bravour zollte, ins Gegenteil.

5 Uhr nachmittags: Endlich ist das Artilleriefeuer unmittelbar vor uns eingestellt. Dem Lärm ist fast eine unheimliche Stille gefolgt. Es ist kein Zweifel, dass die Infanteriekämpfe auf der ganzen Linie eingesetzt haben.
Leider können wir immer noch nicht in den Kampf eingreifen, denn unsere Offiziere, die sich seit dem frühen Morgen auf der Suche nach einer für uns geeigneten Stellung befinden, sind noch nicht zurückgekehrt. Wir beginnen bereits, um sie zu bangen.

8 Uhr abends: Ich gehe zum feindwärts gelegenen Ausgang unseres Dorfes.
Fortgesetzt kehren versprengte Infanteristen und Artilleristen zurück. 7 Tage haben sie im Trommelfeuer gelegen. Wie es überhaupt möglich war, herauszukommen, wissen sie selbst nicht. Zwar hat sie ein gütiges Schicksal vor größerem Unheil bewahrt – aber moralisch sind sie futsch. Sie irren mit stierem Blick umher. Und viel ist im Augenblick aus ihnen nicht herauszuholen.
Hier kommen Leute von der Maschinengewehr-Kompagnie, denen – wie der eine mehr aus Galgenhumor berichtet – von den Engländern heute morgen die Gewehre “geklaut” worden sind.
Dort schieben und zerren 5 Infanteristen einen Karren mit den Regimentsakten und der Kasse, dem einzigen Hab und Gut, das aus einem vollständig zertrümmerten Dorfe gerettet werden konnte.
Verwundet aber sieht man nur wenige. Sie sind dem feindlichen Sperrfeuer nicht mehr gewachsen. Die Somme mit ihren wenigen, obendrein noch zerschossenen Übergängen ist für sie ein weiteres Hindernis. Viele von ihnen werden die Hoffnung auf Rettung aufgeben müssen.
Aber auch die Artillerie hat stark gelitten. Von einem Feldartilleristen erfahre ich, dass sie die zerschossenen Geschütze im Stich lassen mussten, nachdem die Stellung nach tagelangem Geschossregen dem Erdboden gleichgemacht wurde.
Und so geht es fort. In summa summarum entnehme ich den Aussagen der Zurückkehrenden, dass es den Engländern und Franzosen nach dem gewaltigen Trommelfeuer schließlich gelungen ist, heute die 1. – und teilweise auch die 2.- Linie mit einigen dazwischenliegenden Dörfern zu nehmen. Der Geländegewinn überschreitet zwar nirgendwo mehr als 2 km Tiefe; die allgemeine Lage ist trotzdem für uns äußerst kritisch.
Dauernd kommen aber neue Infanterie- und Artillerie-Regimenter an, so dass wir hoffentlich bald zum Gegenstoß antreten können.

Kurz vor Eintritt der Dunkelheit wird noch ganz in unserer Nähe ein feindlicher Doppeldecker heruntergeschossen – Revanche für den Fesselballon!
11 Uhr Abends gehen unsere Geschütze rechts vor unserem Dorf in Stellung. Die Sammelstelle bleibt auf dem alten Platz.

Der nächste Tagebucheintrag folgt am 2.7.

 

  1. Ziemlich gruselig wenn man bedenkt, dass im Zeitraum dieses Eintrags etwa 20.000 Briten gefallen sind.

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  2. Wie ich gesehen habe sind die letzten beiden Einträge von „Andre Gottwald“ und nicht von „Ernst Pauleit“. Habe ich etwas verpasst? Vielen Dank im Voraus für die Aufklärung!

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  3. Urlaubsvertretung. 🙂 Ich hoffe, Sie können es akzeptieren. Es wird bald alles wieder normal sein.

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  4. OK, ist akzeptiert 😉 Danke dafür!

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  5. Habe da etwas Zweifel, ob der englische Flieger wirklich mit deutschen Abzeichen flog.

    Gibt es da (besser) dokumentierte Nachweise?

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  6. An diesem 1.7.16 viel mein Uropa an der Somme um 10 Uhr infolge eines Granatgeschosses !

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  7. Seit zwei Wochen geht das ja ganz schön zur Sache.
    Wie hoch wohl die Halbwertszeit eines Infanteristen im Schützengraben war?
    Da muss man muss sich gefühlt haben wie ein Getreidekorn zwischen zwei Mühlsteinen.

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