1914-1918 – Die Entwicklung der Dinge

16.2.1917 Was geht an der Sommefront vor?

/ / An der Somme 30.6.16-3.3.17

Unsere Gräben bei Bouchavesnes eingeebnet. Was geht an der Sommefront vor? Das Leben in der Sammelstelle – mit seinen guten und üblen Begleiterscheinungen

Tauwetter und leichter Nebel.

Trotz der schlechten Sicht herrscht an der Front seit dem frühen Morgen lebhafte Artillerietätigkeit. Wie ich gehört habe, sollen durch die äußerst starken feindlichen Feuerüberfälle in der gestrigen Nacht unsere Gräben bei Bouchavesnes vollständig eingeebnet sein, so dass sie bei dem heute erwarteten Angriff der Engländer kaum zu halten sein werden.

Ganz abgesehen von diesen alltäglichen, immerhin noch “unbedeutenden” Unternehmungen auf beiden Seiten, scheinen sich aber bei uns große Dinge vorzubereiten.

Sämtliche Ortschaften an der Sommefront bis einschließlich St. Quentin sollen innerhalb 3 Tagen geräumt werden. Es sieht aus, als wollten oder müssten (?) wir um ein beträchtliches Stück zurückgehen.

Man wird aus allem trotzdem nicht recht klug, da beispielsweise in den Geschützstellungen zurzeit noch große Erdarbeiten und besondere Unterstandsbauten für Munition vorgenommen werden, die eigentlich das Gegenteil besagen könnten.

In der Sammelstelle aber wickelt sich das Leben endlich einmal in ruhigen Bahnen ab. Wir haben Zeit und Gelegenheit, unseren Körper und unsere Kleidung sowie Wäsche täglich einer gründlichen Säuberung zu unterziehen. Die dabei verwandten Mittel sind primitiv. Eine Waschmaschine oder ein Waschbrett brauchen wir nicht. Mit einer besonderen Art Waschpulver wird die Wäsche in wenigen Stunden mühelos sauber “gekocht”.

Und wer nicht wäscht, sucht sich irgendetwas zusammenzuschmoren. Jedenfalls geht das Feuer im Ofen Tag und Nacht nicht aus.

Anders war es vor einigen Tagen mit unserer elektrischen Beleuchtung. Als ich des Abends einen längeren Brief für die Heimat verfassen wollte, versagte der Strom mindestens 10mal hintereinander. Und jedesmal war ich gezwungen, eine in Reserve gehaltene Kerze anzuzünden.

Sobald ich aber die Kerze an hatte, brannte auch das elektrische Licht wieder – sobald ich sie ausblies, war auch der Strom futsch.

Ich kriegte schließlich eine nicht gelinde Wut, und nur mit Mühe konnte ich meine Zeilen beenden. — Wenn man sich nur hätte beschweren können!!

Trotz dieser Mängel bedeutet die elektrische Beleuchtung immerhin noch einen gewissen Luxus gegenüber der sonstigen Wohnungseinrichtung. Denn diese ist meist einfach und dürftig oder – wie man bei uns zu Hause sagt – “ländlich sittlich”, mit Ausnahme der Betten, auf die die Franzosen überall ihre besondere Sorgfalt legen, und die uns jetzt besonders zustatten kommen.

Doch müssen wir höllisch aufpassen, dass uns dieser letzte Rest von Wohlstand und Kultur nicht über Nacht unter dem Hintern weggeklaut und pfundweise nach der Heimat verschickt wird. Seitdem nämlich eines Tages ein Pfiffikus entdeckt hat, dass es sich bei der Füllung der Matratzen um gute Rohschafwolle handelt, glaubt plötzlich ein jeder, daheim ein Rohstofflager anlegen zu müssen, aus dem bei Gelegenheit ein paar neue Socken oder sonstwas entstehen sollen.

Dass dies überhaupt möglich ist, verdanken wir in zweiter Linie unserer Feldpost. Doch will ich diesmal meine Lobeshymne ein wenig eindämmen. Auch bei dieser Truppe hat der Krieg schon eine gewisse Verwilderung der guten Sitten zur Folge gehabt. Jedenfalls ist es noch gar nicht lange her, dass das eine oder andere meiner eigenen Päckchen die Heimat nicht erreichte.

Da war es wirklich zu verwundern, dass in einem besonderen Falle aus einem Paket Würfelzucker, mit dem ich meine Lieben erfreuen wollte, auf dem langen Wege bis nach Hause wenigstens noch ein Pfund “Hafer” wurde – worüber meine Angehörigen beim Öffnen schön “gewiehert” haben.

Größere Paketsendungen dürfen übrigens nur von Offizieren – oder von Mannschaften nur mit deren besonderer Bescheinigung über den Inhalt – abgeschickt werden. Man will damit verhüten, dass Dinge in die Heimat gehen, deren Eigentumsrechte zweifelhaft sind. Wir können dieser Maßnahme aber nur teilweise Verständnis abgewinnen, da wir nach mancherlei Beobachtungen das Gefühl nicht los werden, dass sie nur getroffen wurde, damit einige wenige das, was man der Allgemeinheit verbietet, umso ungestörter tun können.

Der Krieg ist eben nirgendwo ein Förderer guter Eigenschaften und Tugenden.

Am stärksten wurden durch ihn die Begriffe zwischen “mein und dein” verschoben. Wer noch nie in seinem Leben geklaut hat, der lernt es jetzt bestimmt. Ich selbst kann mich nicht davon freisprechen.

Was soll man auch tun, wenn man nach vierwöchiger Fronttätigkeit bei seiner Rückkehr in die Ruhestellung feststellen muss, dass aus dem zurückgelassenen Tornister von “guten” Kameraden inzwischen sämtliche Habseligkeiten ausgeräumt wurden?

So blieb auch mir nur der eine Weg. Noch in derselben Nacht hatte ich mir für die verschwundenen Dinge auf die gleiche, nicht mehr ganz ungewöhnliche Weise Ersatz verschafft – ohne dass ich Gewissensbisse darüber empfand. Heißt es doch außerdem beim Militär schon seit uralten Zeiten: “Klauen ist nicht verboten – man darf sich nur nicht dabei erwischen lassen!”

Jetzt wache ich eifersüchtig über mein Hab und Gut und werde es mir so schnell nicht wieder entreißen lassen.

Andere mögen – durch die Erfahrung gewitzigt – ebenso denken. Aber geklaut wird trotzdem allerwegen weiter.

Die Beweggründe sind verschieden. Dem einen ist die Kleptomanie angeboren – der andere hat sie im Kriege erlernt. Dieser denkt lediglich an den eigenen Nutzen – jener stiehlt grundsätzlich nur im Allgemein-Interesse. Viele stürzen sich auf die Fressalien – manche wiederum riskieren den halben A… auch, wenn es sich um Dinge handelt, die man nicht futtern kann.

An der Aisne ging uns beispielsweise ein Lautsprecher verloren. Zunächst wurde Ersatz aus dem Blockhaus einer noch in Betrieb befindlichen Bahnstrecke “besorgt”. Als sich dieser als unzureichend erwies, wagte es ein ganz Verwegener mitten im schwersten Feuer und während es die fremde Batteriebesatzung vorgezogen hatte, ihr Leben in Sicherheit zu bringen, bei der Nachbarbatterie einen Lautsprecher “auszuspannen”.

Höher gehts nimmer, so wird der Laie denken. Doch ist es noch gar nicht lange her, dass hier an der Somme eine Batterie beim Herausschaffen der Munition nach der Geschützstellung das Pech hatte, in stockdunkler Nacht vom Wege abzugeraten und mit der schwerbeladenen Karre die Straßenböschung herunterzukippen.

Als man am nächsten Morgen den Schaden wieder einrenken wollte, lag nur noch die Munition da. Der schwere Wagen war längst von mitleidigen Seelen entführt — und ward’ nie mehr gesehn.

Man könnte Bände über dieses Thema schreiben. Um aber auf das Verschicken der Rohwolle nach der Heimat nochmals zurückzukommen, so muss ich feststellen: “Wäre man nur früher sparsamer gewesen, so brauchte heute niemand diesen weit unbequemeren Weg zu gehen.”

Nicht nur 1914, sondern noch 1915 und sogar später wimmelte es in den Ruhe- und Waldlagern von weggeworfenen Hemden, Unterhosen und Socken, deren Reinigung man nicht für der Mühe wert oder angesichts der darin zu hunderten hausenden Läuse für unmöglich hielt.

Doch gab es schon damals “Unentwegte”, die keine Mühe scheuten, Tag und Nacht das Wollzeug sammelten, es in ihren Mußestunden – von uns übrigens mit einem mitleidigen Lächeln bedacht – wuschen und dann mit der Feldpost oder mit jedem Urlauber regelmäßig nach der Heimat sandten.

Heute müssen auch wir an ihnen die Wahrheit des Sprichwortes erkennen: “Dass wer zu letzt lacht, immer noch am besten lacht!” Die Lumpensammler von ehedem fühlen sich jedenfalls über unseren jetzigen Sammeldrang längst erhaben.

Unsere Lagerstätte hat also heute doppelten Wert. Würden wir keine Matratzen besitzen, so müssten wir hier gleich mit der Mutter Erde Bekanntschaft machen.

Fast in keinem der einfacheren Bauernhütten  befindet sich ein Holz- oder Steinboden. Meist ist nur Lehm festgestampft worden. Fegt jemand durch die Stube, so wirbelt der Staub wie auf der Straße auf. Da kann dann selbst eine durchweg an etwas größere Sauberkeit gewohnte deutsche Soldatenhand keinen Grund mehr hineinbekommen.

Aber auch in anderen Dingen sieht es mit der “Hygiene” in dieser Gegend “mau” aus.

Die Häuser weisen verhältnismäßig nur wenig und außerdem nur kleine, niedrige Fenster auf. Nach der Straße zu findet man sogar viele fensterlose Giebel. Es heißt, dass eine früher nach der Zahl der Fenster erhobene “Luxussteuer” den Hauptgrund für diese Sparsamkeit gebildet habe.

Da ist es freilich kein Wunder, dass auch der Besitz eines anständigen Klosetts als “Luxus” betrachtet wird. Die meisten Bewohner haben in irgendeinem Winkel des Gartens – ringsum mit einer Hecke verdeckt und ohne Schutz gegen Wind und Wetter – lediglich eine Grube gebaut und darüber 2 Steine mit je einer halbrunden Öffnung an der Innenseite gelegt, auf die sie sich im Falle des Falles dann nach dem Motto “frei weg” stellen.

Zur zielsicheren Benutzung dieses Ortes gehört allerdings jahrelange Übung und es will uns beim besten Willen nicht gelingen, die Gewandtheit und Kunstfertigkeit der Bewohner auch nur einigermaßen zu erreichen. Von 100 Schüssen liegen mindestens 90 daneben – trotz eingehender Kenntnis von Schießvorschrift, Zielgerät und Scherenfernrohr.

Viel lieber hocken wir unter solchen Umständen auf unserer einfachen, selbstgezimmerten Stange – oder, wenn es hoch kommt, auf unseren eigenen, durch die bekannte Herzöffnung gezeichneten Häuschen.

Selbstverständlich weiß man – wie in vielen anderen – so auch in diesen Dingen einen gewissen Abstand zwischen Hoch und Niedrig zu wahren. Wir haben uns längst daran gewöhnt.

Als aber vor kurzem wegen der Enge der Verhältnisse Ort an Ort lag und eine Mitbenutzung des einen, für die Offiziere bestimmten Ruheplätzchens den Mannschaften dadurch unterbunden werden sollte, dass man über die Tür schrieb: “Nur für Offiziere”, hatte doch irgendein Witzbold über Nacht die Situation richtig erfasst.

Am nächsten Morgen stand auf der Nebentür groß und breit zu lesen: “Nur für die anderen Ar……er.”

Der nächste Tagebucheintrag folgt am 19.2.

  1. Da fällt mir wieder mal der ironische und lustige Schreibstil des Autors auf. Wirklich unterhaltsam geschrieben!

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  2. Offensichtlich erlebt Ernst Pauleit die Vorbereitungen auf das Unternehmen „Alberich“, einen strategischen Rückzug.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Unternehmen_Alberich

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  3. Erstaunlich (oder auch nicht, angesichts der inzwischen schlechten Versorgung in Deutschland, dass die ‚Liebesgaben‘- Päckchen nun in die umgekehrte Richtung geschickt werden.

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  4. Mich wundert, dass das beschildern des Örtchens mit so einem Spruch keine disziplinarischen Maßnahmen nach sich zog.
    Bei meiner Bundeswehrkombo wär die Hölle ob der Disziplinlosigkeit los gewesen.
    Am Ende sorgte dann der Vertrauensmann dafür, dass eben (nur) einer für den Mist gerade stand, denn sonst hätte es 4 Wochen keinen Ausgang gegeben.
    Ernst Pauleit hatte eh keinen Ausgang… außer mal Urlaub

    Und in früheren Kriegsjahren gab es da Andeutungen bei Diebstahl etc.

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