1914-1918 – Die Entwicklung der Dinge

2.3.1915 Ein Nachtbesuch im Schützengraben

/ / 11.10.1914 - 8.3.1915 In Französisch Flandern

Ein Nachtbesuch im Schützengraben.

Die feindliche Artillerie ist recht lebhaft. Wir schießen nicht.

7 Uhr abends gehe ich mit 2 weiteren Kameraden zur Beobachtung, um den schon längst gehegten Plan, unsere Schützengräben aufzusuchen, endlich in die Tat umzusetzen. Der Weg führt über unser vorgezogenes Geschütz nach dem linken Flügel des XIX. Armeekorps (12. Kompanie in Reserve 179)

Unterwegs begegnen wir einem Trupp Feldartilleristen, die ein Geschütz aus ihrer Stellung herausgezogen haben, weil das zweite zu diesem Zug gehörige Geschütz heute nachmittag durch die Engländer in Klumpen geschossen worden ist. Wir besehen uns den Schaden und stellen fest, dass 2 Volltreffer die Scheune, in der das Geschütz gestanden hatte, völlig zertrümmert haben. Menschenleben sind dabei glücklicherweise nicht zu beklagen gewesen.

Von der Feldartilleriestellung aus verfolgen wir den Weg weiter, der in einer Entfernung von etwa 800 bis 100m hinter den Schützengräben entlang läuft und auf dem sich trotz der gefährlichen Nähe des Feindes nach Einbruch der Dunkelheit und während der ganzen Nacht bis zum Morgengrauen ein Riesenverkehr mit Wagen, Pferden und Menschen entwickelt.

Dann biegen wir links ein und stehen plötzlich, eh wir’s uns versehen, unmittelbar vor – oder vielmehr hinter – unseren Gräben.

Der Feind ist im Augenblick ruhig. Kein Gewehrschuss fällt, weshalb wir ohne Deckung über den hinteren Rand des Grabens in diesen einsteigen können.

Natürlich ist man bei der Infanterie erstaunt ob dieses unerwarteten Besuches; aber überall können wir eine freudige Genugtuung wahrnehmen darüber, dass die “schwere Artillerie”, die doch sonst immer so weit hinter der Front steht, sich wirklich einmal nach vorn verlaufen hat.

Der Empfang ist deshalb ungezwungen herzlich, besonders, nachdem entdeckt wird, dass ich Landsmann und sogar in der Garnisonstadt des Regimentes Leisnig in Sachsen beheimatet bin.

Alles wird uns bereitwilligst gezeigt: Schiessscharten, Unterstände, Maschinengewehrstellungen, Patronen- und Handgranatenläger. Wir kommen aus dem Staunen gar nicht heraus. Wieviel Sorgfalt und Mühe musste aufgewendet werden, um so vorzüglich ausgebaute Schützengräben herzustellen.

Die Stellung der Sachsen ist geradezu ein Musterwerk. Die Gräben sind hier, ganz gegen die sonst übliche Bauart – über der Erde errichtet, überall mit Brettern ausgelegt und verschalt. Statt der Bretter sind hier und da auch Weidengeflechte benutzt worden. Die äußerst sumpfige Gegend, bei der bereits auf den ersten Spatenstich Grundwasser erscheint, zwingt zu dieser Bauweise.

Dem äußeren guten Bilde passt sich ganz die Stimmung der Bewohner an. Trübe Gedanken scheinen hier nicht aufzukommen. Witz und Scherz begegnen sich in diesen engen Gassen beinahe als Selbstverständlichkeit.

Heute ist trotz der Ruhe alles auf dem Posten und hält Ausschau nach dem Feinde, der hier auf etwa 2-300m gegenüberliegt. In den letzten Tagen sind nämlich drüben bedeutende  Truppenverstärkungen beobachtet worden (man spricht von einer ganzen Brigade), so dass allgemein ein Angriff auf der Linie La Bassée – Armentières erwartet wird.

Aber, sie mögen nur kommen. Seitdem ich diese großartigen Befestigungen gesehen habe, werde ich meine Stiefel selbst beim tollsten Infanteriefeuer nicht eher anziehen, als höherer Befehl dazu vorliegt.

Ein Durchkommen des Feindes scheint beinahe ausgeschlossen, denn unter anderem sind die Maschinengewehre so eingebaut, dass sich ihr Feuer gegenseitig kreuzen und alles, was in den Weg kommt, vernichten kann.

Dazu kommen prächtige Drahthindernisse in einer Breite von etwa 6m und in verschiedenen Höhen, die tiefen Gräben vor der Brüstung und die mancherlei Schein-Schützengräben mit besonderen Drahthindernissen (Fußangeln usw.)

Nicht zu vergessen das Gewehrfeuer unserer Infanteristen selbst, dem wir im Bedarfsfalle mit unseren Granaten und Schrapnells gute Hilfsstellung leisten.

Nach zweistündigem Aufenthalt scheiden wir von den Sachsen und ziehen zu den angrenzenden 55ern hinüber. Auch diese haben tadellose Stellungen, doch müssen sie noch hier und da ausgebaut und verbessert werden.

Ihre Drahthindernisse dagegen sind ausgezeichnet. Wir gehen mit vor die Deckung und überzeugen uns selbst davon.

Die Aufnahme bei den 55ern ist ebenso herzlich wie bei den Sachsen.

Ein Unteroffizier bringt uns bis zu den Pionieren, bei denen wir einen Minenwerfer beschauen können. Übrigens ein ganz primitives Ding – jedoch mit umso größerer Wirkung.

In dem kugelsicheren Laufgraben über Erde verlassen wir gegen halb 11 Uhr abends die Gräben und marschieren über Radinghem – einem durch englisches Granatfeuer stark verwüsteten Dorfe – nach unserer Beobachtung zurück.

12 Uhr nachts sind wir wieder in Bas Flandre. Unsere Batterie gibt eben 2 Beunruhigungsschüsse nach dem Feinde ab. Ich verschwinde mit einer wohligen Müdigkeit in den Gliedern sofort ins Bett.

Der Besuch der Schützengräben hat mich voll befriedigt.

Der nächste Tagebucheintrag folgt am 3.3.

  1. Na das war doch mal ausführlich 🙂

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  2. Bleibe dabei, ein REMF. Aber gut, ansonsten wohl kein Tagebuch über vier Jahre Krieg … .

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  3. Naja – er war halt Artillerist. Die bewegen sich nunmal nicht in der vordersten Frontlinie. Ihn aus diesem Grund als REMF zu bezeichnen, halte ich für übertrieben. Nach dieser Lesart würde ja nur die Infanterie zur kämpfenden Truppe zählen…

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    • Rear Echelon Mother F***er, Bezeichnung für einen Soldaten ohne Fronterfahrung. Wobei ich es wie whatever für etwas übertrieben halte Ernst Pauleit auch als solchen zu bezeichnen. Artillerie steht nun mal nicht direkt an der Front.

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  4. Die Bezeichnung an und für sich ist schon so widerwärtig, dass ich sie überhaupt nicht verwenden würde. Und wenn, dann steht es allenfalls einem Soldaten mit Fronterfahrung zu, einen Kameraden ohne diese Erfahrung mit einer wie auch immer gearteten Bezeichnung zu versehen. Was schliessen wir daraus? Uns, die wir aus 100 Jahren zeitlichem Abstand auf jene Ereignisse zurückblicken und die wir vermutlich – glücklicherweise – keine Kriegserfahrungen machen mussten, steht es zuallerletzt zu, darüber zu befinden, ob Ernst Pauleit oder irgend ein anderer als REMF zu bezeichnen ist.

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    • @Stefan: Genau so ist es! Danke!

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    • Lustig.

      Erstens ist an der Bezeichnung „REMF“ per se nichts Widerwärtiges, sie beschreibt einfach nur einen Ist-Zustand.

      Zweitens müssen wir nicht 100 Jahre zurückgreifen, den Umstand gibt es, seit es organisierte Armeen gibt, der Begriff an sich wurde nach meinem Kenntnisstand durch die GIs in Vietnam geprägt; er bezeichnet auch nicht „Soldaten ohne Fronterfahrung“, sondern einfach nur die rückwärtigen Truppenbestandteile, d.h. Gefechtsfeldunterstützung (Artillerie etc.), Nachschub, Instandsetzung, Truppendienstverwaltung etc.

      Drittens, schön für Sie, dass Sie offensichtlich nicht gedient haben. Ich schon, wenn auch nicht in irgendeinem Weltkrieg, sondern viel später. Und ja, ganz vorne. Daher erlaube ich mir auch, die in diesem Eintrag beschriebene Art von Fronttourismus durch Truppenteile der Etappe zu kritisieren und die daran beteiligten Protagonisten als REMFs zu bezeichnen.

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  5. Den Ausführungen von Stefan kann ich mich nur anschließen. Die Tagebucheinträge erlauben uns, die wir sicher bis auf ganz wenige Ausnahmen keine Kriegserlebnisse haben, naturgemäß „nur“ einen Eindruck von den Erlebnissen des Tagebuchschreibers (Artilleriesoldaten!). Dass die eines Infenteristen(im Schützengraben) andere sind, liegt auf der Hand.
    Ich bin auf jeden Fall sehr neugierig auf die weiteren Einträge. An dieser Stelle meinen aufrichtigen Dank für die Veröffentlichung des Tagebuchs.

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  6. Naja, die Etappe hatte nie den besten Ruf, aber ich denke die schlimmsten „Verfehlungen“ kommen ja noch! In folgenden Kriegen und Besatzungen. Da hier das „gemeine Fussvolk“ nichts durfte hatten die nicht viel Möglichkeit sich daneben zu benemen, das kam noch.

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  7. Zum „Front Torismuss“ nun im 18zehnten Jahrhundert war das zu Schlachten ein Happening, das ist unangemessen! Aber unabhängige Berichterstattung hat viele der Information über die wir hier trefflich „klugscheissern“ erst errmöglicht! Der Nachteil ist die dadurch auch erst mögliche asymmetrische Kriegführung! Z.B. Ukraine.

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  8. Man darf nicht vergessen, das die Zeit des richtigen Fronteinsatz (in den Gräben) für einen Infanteristen damals nur eine begrentzt war. Irgendwo habe ich mal gehört das es im Jahr „nur“ ein paar Wochen waren die der Soldat im Kampfgraben verbrachte. Bei manchen mehr bei anderen weniger. Es gab auch unterschiede zwischen Kampfgraben, Versorgungsgraben und Reservegraben etc.
    Der Rest der Zeit war Etappe, Drill und Lageweile.
    Nichtsdestotrotz hat auch unser Tagebuchschreiber einiges an Entbehrungen zu ertragen. Ihn als REMF zu bezeichnen finde ich etwas unfair. Er hat kein Schreibtischjob irgendwo in der Etappe.

    Ich denke mir hätte ein Tag im Schützengraben fürs leben gereicht.

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    • Wer nochmal zurück in den August/Anfang September schaut wird feststellen, dass es dort absolut genug direkte Kampferfahrung gab. Dass er nun in relativer Sicherheit ist liegt mehr daran, dass die Front insgesamt still ist.

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  9. Als Etappe im 1. Weltkrieg wurde das gesamte Gebiet außerhalb der Artillerie-Reichweite des Feindes bis zur Reichsgrenze erklärt. Artillerie beharkt sich Gegenseitig? Keine Etappe.
    Schon lustig wenn wiedermal so’n Mannschaftsrang zeigt warum er selbige nie überwunden hat. Und so’n richtiges Frontschwein? Wo kommt das denn plötzlich her, bei der Verteidigung unserer Bundesrepublik gegen all die Kriegsherren der letzten Jahre? 😉 Entschuldige AL aber ich hab wirklich nicht mehr als Hohn für deine Einwürfe übrig. Die Artillerie gehört nicht zur kämpfenden Truppe? Ich bin mir sicher das sehen die armen Frontschweine die auf Artillerieunterstützung warten ganz genauso 🙂

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