1914-1918 – Die Entwicklung der Dinge

23.5.1917 Kriegsmüdigkeit bei der Infanterie

/ / Zum zweiten Mal an der Aisne 3.3.17-8.7.17

Sammelstellenleben in Nizy le Comte. Kriegsmüdigkeit bei der Infanterie.

Im Ruhelager Nizy le Comte

Im Ruhelager Nizy le Comte

Wir sind im alten Trott! Ruhezeiten und Fronttätigkeit laufen in geregelten Bahnen.

Gestern gab es in unserer Sammelstelle – jetzt Nizy le Comte – eine gemütliche Feier. Ein Fass Bier wurde in der neu erbauten Batterie-Kantine angeschlagen. Dazu waren als Gäste 8 Musiker des I.R.80 geladen. Selten habe ich einen so schönen Abend in der Front verleben können.

Das Zusammensein mit den in den Ruhequartieren liegenden Kameraden der Infanterie gab mir zugleich Einblick in ihre augenblickliche Gemütsverfassung, die stark nach Kriegsmüdigkeit aussieht und die mich nachdenklich stimmt.

Viele von ihnen kannten den Krieg bereits von Anbeginn; manche waren nach ihrer Verwundung schon zum 2. Oder 3. Mal nach dem Westen zurückgekehrt. Wer aber die letzten unerhörten Anstürme der Franzosen hier an der Aisne miterlebt hatte und sich nun hinter der Front endlich geborgen fühlte, dachte nur mit Schaudern an den Tag, der ihn wieder in die Gräben bringen sollte.

So kam es ganz von selbst, dass man – wie über Nacht – einen besonderen Trick erfand, der schnell ansteckend wirkte und die Ehrbegriffe verwirrte. Man verbrach irgendeine Kleinigkeit, stahl dem lieben Nachbarn von seinem bescheidenen Eigentum, vergaß absichtlich einen militärischen Gruß oder gab seinen Vorgesetzten Widerworte — und erzielte auf diese Weise ein paar Tage oder auch Wochen “Kasten” die noch vor dem nächsten Ausrücken verbüßt werden mussten.

Das Ortsgefängnis füllte sich zusehends und reichte bald nicht mehr aus, alle die kleinen “Missetäter aus seelischer Not” zu fassen. Als schließlich die Unterbringungsmöglichkeiten erschöpft waren, erhoffte man von einem “Generalpardon mit besonderer Auflage” Abhilfe. Wer freiwillig wieder nach vorn wollte, dem sollte die Strafe erlassen werden!

Aber konnte man wirklich erwarten, dass sich von denen, die noch vor kurzem auf den feuerspeienden Höhen 91, 100 und 108 fast dem Irrsinn nahe waren, jemand “freiwillig” bereit finden würde, seine eigentlich doch mit der gegenteiligen Absicht befleckte Ehre durch einen neuen Granathagel reinwaschen zu lassen?

3 Jahre Krieg sind eine lange Zeit. Sie haben längst erkannt, dass sie vorn in der Kampflinie nichts mehr gewinnen – aber alles verlieren können. So kam es, wie es kommen musste. Keiner der Infanteristen machte von diesem selten “günstigen” Tauschangebot der Division gebrauch.

Und ich muss bekennen: Auch ich würde heute viel eher dem Rufe der Heimat folgen, der schon für manchen Erlösung aus körperlichen und seelischen Qualen brachte.

Statt dessen sitze ich seitdem den frühen Morgen wieder in meiner Baumbeobachtung und lasse das Scherenfernrohr über die feindlichen Gräben und Stellungen gleiten. Nur der Umstand, dass Freund und Feind heute Siesta halten, tröstet mich einigermaßen über mein Schicksal hinweg.

Der nächste Tagebucheintrag folgt am 25.5.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert