1914-1918 – Die Entwicklung der Dinge

30.6.1916 – Abruf aus Flandern.

/ / In Belgisch Flandern 25.4.16-30.6.16

Fahrt mit der Eisenbahn über Westroosebeke, Courtrai, Lille, Douai, Cambrai bis Cartigny. Die Offensive des Feindes an der Somme. Eine Unmasse Flieger und Fesselballons. Das Trommelfeuer. Nachtlager in le Mesnil.

Das Schicksal ist doch launenhaft!
Heute – genau 1 Jahr nach der Aufstellung unserer Batterie und der Abfahrt aus der Champagne – sitzen wir wieder auf der Bahn.
Wir hatten uns in den verflossenen 2 Monaten in der schönen flandrischen Gegend gut eingerichtet und eingelebt und glaubten, hier beinahe das Ende des Krieges abwarten zu können. Aber, weit gefehlt!
Gestern mittag 2 Uhr traf ganz unerwartet die Nachricht ein: “Batterie 106 macht sich sofort marschbereit!”
Wir trauten unseren Ohren nicht. Nachdem wir uns aber von dem ersten Schrecken erholt hatten, ging es wieder eifrig ans Packen – wie schon so oft – und um Mitternacht hatten wir bereits alles in Ordnung. Ein vierstündiger Schlaf stärkte uns für die heutige Fahrt.
Seit 4 Uhr morgens sind wir auf der Achse. Wir wurden in Westroosebeke verladen. Um 9:15 Uhr vormittags verließen wir Flandern.
11:30 vormittags waren wir in Coutrai (Mittagessen);
Dann kam
1 Uhr nachmittags Lille,
2:20 Uhr nachmittags Douai und
3:20 Uhr nachmittags Cambrai.
Um 5:15 Uhr nachmittags wurden wir in Cartigny ausgeladen.

Und damit sind wir an der Somme!
Nach kurzem Aufenthalt setzen wir uns jetzt in Bewegung – wohin weiß kein Mensch. Doch, dass es wieder dicke Luft gibt, ist für uns nicht mehr zweifelhaft.

Heller Sonnenschein lacht zu unseren Häupten. Vorn an der Front aber hat der Krieg wieder einmal sein verzerrtestes Gesicht aufgesetzt. Überall sieht man auf den vorliegenden kleineren Höhen starke Rauchwolken aufsteigen, die teils von den dicht aufeinander folgenden Geschosseinschlägen, teils von den zahlreichen brennenden Gehöften herrühren.
Es wogt und brandet auf und ab. 5 Tage schon schütten die Engländer ihr wütendes, mörderisches Feuer auf unsere Linien – und noch ist kein Ende abzusehen.
Der Heeresbericht spricht von “Patrouillenkämpfen” an der Somme. Kein Mensch daheim wird sich jedoch auch nur im entferntesten eine Vorstellung von dem machen können, was sich hinter diesen dürftigen Worten in Wirklichkeit verbirgt.
Unaufhörlich summt und brummt es zu uns herüber. Ebbt das Gedröhn einmal vorübergehend ab, so setzt es gar bald mit verdoppelter Stärke wieder ein.
Plötzlich werden wir durch einen ohrenbetäubenden Knall aufgeschreckt. Irgendwo geht ein Munitionsstapel zum Teufel. Eine gewaltige Rauchsäule bis zu hundert Meter Höhe steigt auf. Die zusammengepresste Luft drückt unangenehm auf die Ohren – obwohl wir noch ein ganzes Stück vom Schuss ab sind.

Allmählich rücken wir aber dieser Hölle näher. Unser Blick ist unverwandt nach dem Westen gerichtet. Und was wir da schauen, spricht eine deutliche Kriegssprache.
Erst um 8 Uhr abends machen wir mitten auf der Landstraße Halt. Einen klaren Befehl für uns können wir nicht erlangen. Diese Ungewissheit wirkt auf uns alle ein. Wir sind von einer inneren Unruhe ergriffen, die uns bei jedem Einschlag, der sich in unsere Nähe verirrt, zusammenzucken lässt.
Und, dass hier im Augenblick alles drunter und drüber geht, fühlt ein Blinder mit dem Krückstock. Leere Kolonnen rasen an uns vorüber, neue Munition und neues Material heranzuschleppen. Der Verbrauch ist gewaltig. Weitere Verstärkungen eilen nach vorn. Es ist ein ewiges Kommen und Gehen, Hasten und Jagen — und zu langen Überlegungen bleibt keine Zeit.
Die Absichten des Feindes vermögen wir nur schlecht zu erkennen. Die einzige Beobachtungsmöglichkeit in diesem verhältnismäßig flachen Landstrich, unsere 6 Fesselballons, wurden gleich zu Beginn dieser Offensive von englischen Fliegern heruntergeholt. Es war ein wohlvorbereiteter Gesamtangriff, dessen Erfolg sich so urplötzlich einstellte, dass das Ende von wegblieb.
Jetzt müssen wir uns allein mit Fliegern behelfen, von denen allerdings zeitweilig mehr als 20 Stück in der Luft herumschwirren, so dass wir Freund und Feind kaum noch unterscheiden können.
Bei den Engländern aber steht noch die doppelte Zahl von Fesselballons am Himmel. Ich zähle auf einer verhältnismäßig kleinen Frontstrecke allein 10 Stück. Sie glotzen uns dreist und unverschämt an. Ich würde mich wirklich nicht wundern, wenn etwa in wenigen Minuten irgendein Langrohr von drüben auch in unsere dicht durcheinander quirlende Masse von Menschen, Pferden und Fahrzeugen hineinfunkte.

Punkt 10 Uhr abends verstärkt sich das Artilleriefeuer auf der gesamten Front zum heulenden Orkan. Es drückt die Stimmung bei allen auf den Nullpunkt herab. Leider können wir heute nicht mehr in das Gefecht eingreifen und unseren armen Brüdern im Schützengraben helfen, denn es ist inzwischen dunkle Nacht geworden.

Gegen halb 12 Uhr nachts haben wir uns endlich zu dem Entschluss durchgerungen, in dem Ort Le Mesnil auf einem großen Heuboden Quartier zu beziehen. Plötzlicher Befehl zur Alarmbereitschaft zwingt uns jedoch, in unmittelbarer Nähe der Fahrzeuge zu bleiben und auf der angrenzenden Wiese – ohne Dach und Zelt – zu nächtigen.
Die Lage ist demnach ernst. Noch immer blitzt es an allen Ecken und Kanten auf! Noch immer brüllen die Kanonen! Und banger und banger wird es uns ums Herz.
Was aber kümmerts die Sterne da droben? Sie blicken in alter Klarheit auf uns herab – und wundern sich höchstens über den Wahnsinn, der hier unten auf der Erde die Menschen zerfleischt!

 

Der nächste Tagebucheintrag folgt am 1.7.

 

 

  1. Karte der Hinfahrt (passt nicht genau, da sich bei Google nur ein Reiseziel bei Bahnfahrten angeben lässt) bis zum Zielort Cartigny: https://goo.gl/maps/sayQzPYg2Jk

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  2. Sehr interessant. Offensichtlich waren die Bahnstrecken längs der Front noch in Ordnung.

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  3. Jetzt also doch noch in den Schlund der Hoelle. 🙁

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  4. Vorher beschwerten sich doch einige, warum Paul nichts über die anderen Schlachten von Verdun bis Somme etc. schrieb oder auch warum er weniger schrieb.

    Doch jetzt, wo er die Details des ausufernden Bürokratismus am Beispiel des nicht zurückgegeben Unteroffizier Unterhemdes für 3 Mark am 18. Schriftstück festmacht, um dann gleich darauf die Hölle und Ängste der Schlachtenfront zu beschreiben, finden sich keine Kommentare, obschon er all das Genannte sehr deutlich beschreibt wie z.B. sein Vergleich zwischen Schreibe Heeresbericht „Patrouillenkämpfe“ und seinem Erleben hautnah .
    Und dazu fallen doch all die Details auf wie die Rolle der fehlenden Fesselballone, seine Befürchtung vor Fesselballon gelenktem Zielbeschuß, die Rolle des immensen Nachschub, ….

    Alles doch sehr authentisch, was ihn da wieder zum Schreiben bringt.

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    • Ich verfolge das Tagebuch sehr lange und mit äußerstem Interesse. Es ist ja gerade das Authentische, aus einem persönlichen Blickwinkel betrachtete was so fasziniert. Sie haben da durchaus recht. Die etwas spärlicheren Kommentare würde ich nicht so drastisch beurteilen. Es gibt wohl sehr viele Leser. 🙂 Im übrigen haben Sie die Lage exzellent zusammengefasst. Ich bin auf die übrigen Jahre (wenn es so richtig hässlich und absurd wird) sehr gespannt. So eine Art „Erziehung vor Verdun“.

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      • Leider hat der Verfasser dieses Blogs bereits angekündigt, dass wir uns bereits im letzten Band der Aufzeichnungen befinden und das obwohl der Krieg noch zwei Jahre andauern wird. Ich befürchte daher, dass den Protagonisten in den folgenden Monaten (wohl auch angesichts noch kommender Ereignisse?) die „Schreiblust“ verlassen hat. Wir werden uns wohl auf wachsende Abstände zwischen den einzelnen Tagebuchaufzeichnungen einrichten müssen (wie es am Isonzo teilweise schon der Fall war)…

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