1914-1918 – Die Entwicklung der Dinge

9.11.1916 Die Laune des Zufalls

/ / An der Somme 30.6.16-3.3.17

Die Laune des Zufalls – ein Wiedersehen 7m unter der Erde. Kann man eine Wendung der Dinge erhoffen?

Wie ist die Welt doch klein!

Man denke: Irgendwo in Frankreich, in einem in Friedenszeiten kaum beachteten kleinen Wäldchen, tief unter der Erde, in engen verwinkelten Stollen — gibt es ein unverhofftes Wiedersehen zwischen Zweien, die vor Beginn des Krieges jenseits der Grenzpfähle im gleichen Ort lebten und unter einem Dache schafften.

Schon einmal erwähnte ich, dass in unserem Bacquets-Walde zahlreiche Artillerie- und sonstige Beobachtungen ihr Standquartier aufgeschlagen haben. Er ist einer von den wenigen Punkten, der einen vorzüglichen Einblick in die feindlichen Linien bietet.

Und heute wird in diesem Wäldchen das Unwahrscheinlichste zur Wirklichkeit.

Ich bin gerade von unserer Erdhöhle zum Beobachtungsstand hinaufgeklettert. Da höre ich plötzlich durch den engen Verbindungsgang zur Nachbarbeobachtung meinen Namen rufen — Ich stutze. — Die Stimme ist mir fremd und doch bekannt. Wer mag mich wohl in dieser Wildnis aufsuchen wollen?

Das Rätsel löst sich bald. Aus dem Dunkel tritt Kollege L. aus Witten, den der Krieg zu einem augenblicklich neben unserem Beobachtungsstand liegenden Messtrupp verschlug.

Das Herz pocht schneller. Ich eile von meinem Scherenfernrohr die Treppenstufen hinab, zwänge mich durch den engen Gang – und schon ruhen die Hände ineinander — eng und fest.

Es dauert lange, bis sich die innere Ergriffenheit löst. Dann aber kramen wir alte Erinnerungen aus, wandern im Geiste wieder in Wittens Straßen – in heimatlichen Gassen und Winkeln – und freuen uns wie Kinder , dass wir nach den vielerlei Strapazen und buntgewürfelten Erlebnissen dieses Krieges noch immer munter herumkrabbeln.

Was gibt es nicht alles zu berichten. Die Sprache will sich fast überstürzen. Ein Gedanke jagt den andern.

Doch im Hintergrunde lauert unsere äußere und innere Armseligkeit. Sie wird uns in diesem Augenblick bewusster denn je. Wir sind nicht Herr über uns selbst. Wir dürfen uns nicht nach unserem Willen am Sonnenlicht erfreuen.

Wir müssen mit einer dunklen, nur durch Kerzenlicht spärlich erleuchteten Ecke fürlieb nehmen, um unsere Herzen auszuschütten.

Ich möchte meinem Besuche eine besondere Freude durch irgendeinen leiblichen Genuss bereiten. Es ist so gering, was ich aus den kümmerlichen Resten meiner Verpflegung zu bieten vermag.

Diese Armut legt sich wie ein Schatten auf meine Wiedersehensfreude. Und dennoch werde ich immer dem Schicksal oder auch Zufall dankbar sein, die es mir ermöglichten, für wenige Minuten der Heimat nahe zu sein.

Werden wir beide sie jemals wiedersehen?

Zwar bereiten sich im Osten große Dinge vor. Die Kraft der russischen Dampfwalze wird langsam gebrochen. Die Wiedererrichtung des polnischen Königreiches soll unsere Stellung dort stärken. Man müsste hoffen können, dass nun die längste Zeit dieses gigantischen Ringens hinter uns liegt — doch “Hoffen und Harren macht manchen zum Narren”!

Wir sind schon zu oft enttäuscht worden.

Der nächste Tagebucheintrag folgt am 17.11.

  1. Ist bekannt, ob sich die beiden nach dem Krieg wiedergesehen haben?

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