1914-1918 – Die Entwicklung der Dinge

14.10.1914 Betrachtungen über Land und Leute

/ / 11.10.1914 - 8.3.1915 In Französisch Flandern

Weitermarsch nach Rouvroy, Montigny, Harnes, Carvin, Annouelllin. Betrachtungen über Land und Leute. Das VII. Armeekorps hat den Spitznamen Reisekorps.

Der Befehl für die 14. Division lautet, dass sie heute zur Ruhe übergeht. Wir stehen deshalb erst 7 Uhr morgens auf.

Für 11 Uhr vormittags ist Appell in gereinigten Fahrzeugen angesetzt. Kurz vorher kommt plötzlich Anweisung, alles marschbereit zu machen. Nachdem wir bis um 12 Uhr mittags im Regen gestanden haben, dürfen wir jedoch abspannen und in die Quartiere zurückgehen.

2 Uhr Mittagessen. Kurz darauf rücken wir tatsächlich ab. In Rouvroy (1,5 km vorwärts) machen wir Rast. Eine dreiviertel Stunde später können wir uns der Marschordnung der Division einreihen. Wir marschieren nunmehr über Montigny, Harnes und Carvin bis Annoeullin.

Ankunft 10 Uhr abends. Alle Straßen des Ortes sind mit deutschen Truppen überfüllt. In der Dunkelheit ist es schwer, sich mit Kind und Kegel hindurchzuschlängeln. Schließlich gelingt es aber doch, den uns zugewiesenen Parkplatz zu erreichen. Wir schlagen sofort unsere Zelte auf und begeben uns 11 Uhr zur Ruhe.

Wir – das ganze VII. Armeekorps – befinden uns jetzt am äußersten rechten Flügel der sicher nun einige 100km langen Westfront, um den im Norden gemeldeten feindlichen Truppen die Stirn zu bieten.

Wegen der großen Reisen, die wir in diesem Feldzug schon zurückgelegt haben, hat man uns den Spitznamen “Reisekorps” zugelegt. Schade nur, dass unsere Fahrzeuge keine Kilometerzähler besitzen, sonst würden wir uns sicher selbst davon überzeugen können, dass schon die halbe Erdachse an unseren Radreifen hängt.

Während des heutigen Marsches hatte ich Gelegenheit, Betrachtungen über die Gegend anzustellen.

Die zuerst von uns berührten Orte waren durchweg einheitlich gebaute kleine Dörfer, in denen nur Bergleute wohnten. Von ferne sahen sie fast malerisch aus, denn überall leuchteten aus saftigem Grün frischrote Ziegeldächer hervor. Bei näherem Zuschauen verlor man aber gar schnell den Appetit.

Die Unsauberkeit der Franzosen geht über deutsche Begriffe. Ich sah viel schlecht gepflegte, schmutzige Straßen und dumpfe, niedrige Hütten zwischen denen – anscheinend in Ermangelung eines Besseren – zahlreiche Holzbaracken etwa in der Art unserer Kirmeswagen untergebracht waren.

Auch in dieser Gegend zeugten zahlreiche Schützengräben und zerschossene Häuser an den Ortseingängen davon, dass jedes Stück Land dem Feinde abgerungen werden musste.

Welche Gefühle die Bewohner beim Anblick der vielen, gar nicht enden wollenden deutschen Truppenkolonnen beschleichen mochten, war schwer zu erraten.

Mann, Sohn und Bruder standen – wie bei uns – im Felde. Die Zechen, welche in Friedenszeiten anscheinend den einzigen Erwerb bildeten, lagen still. Hier und da zeigte sich schon das Gespenst der Hungersnot. Die zurückgebliebenen Frauen und waffenunfähigen Männer aber hockten stumm und teilnahmslos an Türen und Fenstern.

Nur die Kinder schienen unbekümmert. Sie sprangen herum wie immer, folgten mit großem Interesse den Truppen, freuten sich diebisch, wenn irgendetwas Essbares für sie abfiel und waren den lieben, langen Tag nicht von der Straße herunterzuschlagen.

Weit angenehmer wirkte der Gesamteindruck von Carvin. Die Straßen waren durch Gaslicht erleuchtet. In den Geschäften konnte man noch allerlei Dinge erstehen. In den Wirtschaften gab es Bier, Schnaps und auch Wein.

Beim Einmarsch war es mir fast, als kehrten wir in unsere alte, liebe garnison Köln zurück. — Doch dieses Trugbild zerfloss nach dem Verlassen des Ortes gar bald im Dunkel der Nacht.

Ob uns Annoeullin morgen beim Tageslicht angenehmer enttäuschen wird, müssen wir abwarten. Zunächst wollen wir uns nach den Anstrengungen des Tages erst einmal gründlich ausruhen.

Der nächste Tagebucheintrag folgt am 15.10.