Fortgesetzt Angriffe der Franzosen bei Barleux, Belloy und Berny. Das beiderseitige Ringen um die Maisonnette-Höhe. “Heldentum” und “Heldentod”
Gestern und heute bei wechselnder Sicht äußerst heftige Artillerietätigkeit, besonders im Süden bei Barleux, Belloy und Berny. Die Franzosen versuchen dort immer wieder in gewaltigen Anstürmen in unsere Linien einzudringen. Die Tapferkeit unserer Kameraden im Schützengraben und nicht zuletzt unser stets pünktlich einsetzendes Sperrfeuer machen jedoch alle Anstrengungen des Feindes zunichte.
Auch in unserem Abschnitte bleibt es lebhaft. Die Bekämpfung der Gräben auf der Maisonnette-Höhe – besonders mit Minen – bietet dem Fernstehenden täglich großartige Schauspiele.
Rauch- und Dreckwolken in allen Färbungen wirbeln aus dem Trichterfeld auf. Steine und Hölzer werden 100m in die Luft geschleudert. Die Erde faucht wie ein wildgewordenes Tier.
Bei jedem größeren Kaliber ruckt es – selbst wenn wir ein ganzes Stück vom Schuss ab sind – auch unter unseren Füßen.
Wir leben wie auf einem Vulkan.
Das Maisonnette-Schlösschen aber ist nur noch ein wüster Trümmerhaufen. Von den paar Baumstümpfen des ehemaligen herrlichen Parkes überdauern immer weniger die Wirkung von Pulver und Eisen.
Die heimischen Zuchthäuser sind gegenüber dieser Wüstenei Orte des Paradieses. Und dieser seltsame Widerspruch wird von uns doppelt empfunden. Während man dort die Verbrecher und Lumpen wohl verwahrt und vor dem Grauen des Krieges behütet, gehen hier die Besten des Volkes zu Tausenden zu Grunde — sterben sie den “Höllentod”, der doch ein “Heldentod” sein sollte.
“Heldentum und Heldentod?” Welch’ Schindluder ist mit diesen edlen Worten schon getrieben worden!
Gewiss! Es gab in diesem gigantischen Ringen zu jeder Zeit ein hundert- und tausendfaches Heldentum.
Ganz besonders damals, bei Ausbruch des Krieges, als es im frisch-fröhlichen Draufgehen vorwärts und hinein in Feindesland ging. Als die ungeheueren Erfolge der deutschen Armeen, Armeekorps, Divisionen, Brigaden und Regimenter zu immer neuen Taten anfeuerten. Wo noch jeder sein Leben ohne Besinnen in die Schanze warf in dem Bewusstsein, dem Vaterland und dem deutschen Volke dieses Blutopfer schuldig zu sein.
Doch die Zeiten haben sich gewandelt!
Der Ruf: “Freiwillige vor!” findet immer weniger Beachtung – beim einfachen Soldaten wie bei seinen Führern. Und “Vaterlandsliebe” ist ein Begriff, den kaum noch einer kennt.
Wie wäre es sonst möglich, dass so viele versuchten, endlich einmal aus diesem Stahlbad herauszukommen?
Wie wäre es andererseits möglich, dass Ungezählte sich krampfhaft an ihrem schönen Posten in der Heimat festklammerten und sich dort für “unentbehrlich” hielten?
Zum dritten aber: Ist es denn wirklich noch “Heldentum”, was man von uns an der Front – in den Erdhöhlen – in den Kellergewölben – in Betonklötzen oder im Sumpf und Morast verlangt? Sind wir nicht armselige Gesellen geworden, dass wir uns – den Tieren gleich – in den Erdboden hineinwühlen, um im gegebenen Augenblick aus ihm wieder hervorzubrechen, aufeinander loszustürzen und uns gegenseitig zu zerfleischen?
Ist es wirklich noch “Heldentod”, wenn wir von dem Eisenhagel der feindlichen Geschosse zerrissen, zerquetscht, verstümmelt oder verschüttet werden, wenn wir irgendwo in Frankreichs Erde mit 99% Wahrscheinlichkeit früher oder später unser schönes, warmes, rotes Blut verspritzen?
Oh nein! Wir sind heute mehr denn je von diesen Begriffen entfernt. Es ist weiter nichts als das eiserne “Muss”, das uns den Mut gibt, auszuhalten – das uns in den Augen derer in der Heimat noch immer zu “Helden” macht, obwohl wir hier draußen längst rohe und gefühllose Geschöpfe — oder auch nur zur Ohnmacht verurteilte arme Kreaturen geworden sind.
Täglich marschieren wir nach vorn – in die Gräben und Batteriestellungen – ohne Eigenleben – ohne Ziel und ohne Hoffnung!
Dennoch will niemand zur Einsicht gelangen. Immer neue Mittel und Methoden werden ersonnen, die mit noch größerer Grausamkeit und noch größerem Erfolg der Vernichtung dienen sollen.
Einer sieht dem anderen die Künste ab. So ist es garnicht zu verwundern, dass wir auch u.a. endlich den Wert einer “planmäßigen Bekämpfung” der feindlichen Artillerie erkannt haben, für die nunmehr eine besondere Artilleriegruppe mit mehreren Batterien zur Verfügung gestellt worden ist. Täglich gehen mehr und mehr feindliche Kartusch- und Geschossstapel hoch.
Und die Franzosen lassen sich nicht lumpen. Im Bacquets-Walde ist’s zwar in letzter Zeit etwas erträglicher geworden. Unsere Geschützstellung bei Bussu wird aber noch immer im starken Wirkungsschießen bepflastert.
Die Geschütze befinden sich dauernd in Reparatur. Auch jetzt ist nur ein einziges von ihnen in Betrieb.
Der nächste Tagebucheintrag folgt am 16.10.
Barbara
„Ist es wirklich noch “Heldentod”, wenn wir von dem Eisenhagel der feindlichen Geschosse zerrissen, zerquetscht, verstümmelt oder verschüttet werden“
„Täglich marschieren wir nach vorn – in die Gräben und Batteriestellungen – ohne Eigenleben – ohne Ziel und ohne Hoffnung!“
Diese zwei Sätze zeigen, wie Verzweifelt und desillusioniert Paul uns seine Kameraden, gewesen sein müssen. Was gibt es da mehr zu sagen…
Klaus
So eindeutig negativ hat sich Paul bisher noch nicht geäussert. Dann sind wohl seine zwischendurch flapsigen und fast humorvollen Einträge auch nur noch Tünche. Er ist jetzt voll in den Niederungen des brutalen und aussichtslosen Krieges angekommen.
Ruedi
Wirklich Interessant und erschütternd die fortschreitende Resignation und Desillusion zu beobachten. Vor allem wenn man bedenkt dass der Krieg noch über zwei Jahre da wird.
Ernst Ihlenfeld
Jetzt, wo der gute Ernst mit vorn im Schlamassel sitzt ist es vorbei mit der Zurückhaltung. Die Sinnlosigkeit des Ganzen wird dem Einzelnen klar.
Aber es ist erst Halbzeit etwa. Beim Verfolgen des Tagebuchs wird einem vor Augen geführt, wie furchtbar lang dieser Krieg gewütet hat.