1914-1918 – Die Entwicklung der Dinge

16.4.1917 Auch in der Heimat gibt es Leid

/ / Zum zweiten Mal an der Aisne 3.3.17-8.7.17

Auch in der Heimat gibt es Leid. Weitere Angriffe des Feindes. Unsere Hoffnung – die starken Reserven.

Ich erhalte traurige Nachricht aus der Heimat.

Mein Großvater ist gestorben. Trotz seiner Achtzig war er stets ein kräftiger, rüstiger und kerngesunder Mann, der noch manches Jahr hätte aufnehmen können. Die schlechten Ernährungsverhältnisse in der Heimat haben ihn vorzeitig hinweggerafft – wie so manchen anderen.

Es ist nicht der einzige Verlust, der unseren engeren Kreis trifft.

Im Frühjahr 1916 musste mein Schwager zum Militär. Er hatte zeit seines Lebens dem freiwilligen Sanitätswesen gedient. Im Ernstfalle hätte er hoffen dürfen, dass seine Kräfte in erster Linie für die Pflege der Verwundeten gebraucht werden würden.

Statt dessen und mancher Proteste steckte man ihn eines Tages zur Infanterie — während andere dank ihrer guten Beziehungen und, obwohl sie in Friedenszeiten nie einen Finger darum gekrümmt hatten, für jenen Dienst geeigneter und würdiger befunden wurden.

Sein Schicksal war damit besiegelt. Es erreichte ihn schneller, als er je ahnen mochte.

Die große Somme-Offensive hat ihn mit hinweggerafft. Doch niemand weiß bis heute – fast ein Jahr später – wann, wo und wie er aus den Reihen der Kämpfenden gerissen wurde.

Im Oktober 1916 kamen die ersten Briefe aus dem Felde wieder zurück mit dem Vermerk “Vermisst”. Die Hoffnung, dass er in Gefangenschaft geraten sein und noch unter den Lebenden weilen könnte, ist von Tag zu Tag geringer geworden.

Wer an der Somme kämpfte, weiss, wieviel näher die Möglichkeit liegt, dass ihn eins der tausend und millionen Geschosse zerriss, verschüttete oder verbluten ließ. Dennoch bleibt auch mir in jedem Briefe, den ich nach der Heimat richte, das schwere Amt, immer wieder nach Worten des Trostes und der Hoffnung zu suchen.

Wie mag es bei allem meiner armen Schwester zu Mute sein?

Der stete Kampf mit der Ungewissheit hat ihr Haar längst gebleicht. Aus dem ehemals blühenden, lebenstrotzdenden Mädel ist eine in stummer Trauer ergebene ernste Frau geworden, die ihr Leid still und aufrecht trägt — und so mit dem größten Helden an der Front gleicht.

Wie aber wird sich einst ihr und ihres Jungen Schicksal gestalten? Selbst der Gedanke, dass Eltern und Geschwister ihres Mannes, dass wir alle mit ihr trauern, ist nur ein schwacher Trost. Mit Grauen denke ich daran, ihr bei meiner Rückkehr in die Heimat gegenübertreten zu müssen mit Worten auf den Lippen — denen man die Lüge ansieht.

Es gehen dort schon zu viele mit ernsten und verschlossenen Mienen einher. Ein jeder hat seinen besonderen Schmerz. Kaum eine Familie ist von dem großen Leid des Krieges verschont geblieben. — Kein schlimmeres Wort aber konnte in unserem deutschen Sprachschatz geprägt werden, als dieses nichtssagende und doch so inhaltsschwere “Vermisst!”

Zur Regelung persönlicher Verhältnisse wird mir ausnahmsweise ein 8-tägiger Heimaturlaub gewährt. Ich kehre deshalb heute Abend zur Ruhestellung zurück.

Wieder sind volle 3 Wochen vergangen, ehe mir dieses Glück im Unglück beschieden ist. Dass ich eine Ausspannung nötig habe, wird niemand bestreiten können. Die Nerven sind nach dem ewigen Getrommel nur noch Bindfäden.

Auch heute wurde den ganzen Tag geknallt. Ein zweimaliges Vernichtungsfeuer unserer gesamten Artillerie ließ feindliche Angriffsabsichten im Keime ersticken. Für die Nacht befürchtet man erneute Vorstöße.

Das, was ich unterwegs auf meiner 20 km langen Fahrt zur Ruhestellung sehe, beruhigt mich jedoch vollkommen. Auf den Zufahrtsstraßen zur Front stehen in langen Reihen Lastautos und Munitionskolonnen mit neuem Material, neuen Batterien und Infanterie-Regimentern. Alles ist bereit, die entstehenden Lücken wieder auszufüllen.

Dei Durchbruchsgefahr wird damit auf ein Mindestmaß beschränkt. Und dennoch…

Der nächste Tagebucheintrag folgt am 17.4. (da dieser verspätet erscheint, folgt auch der nächste nicht sofort, aber im Laufe des Tages.

  1. Kann jemand sagen, wie man während des Krieges überhaupt erfahren hat, dass ein Angehöriger in Gefangenschaft geraten war? (möglicherweise, nachdem er vorher als vermisst galt)
    Haben die Kriegsparteien Informationen über Gefangene ausgetauscht?

    Antworten

  2. Das IKRK in Genf führte eine große Kartei – dort wurden die Informationen zentral gesammelt und weitergegeben. https://de.wikipedia.org/wiki/Internationale_Zentralstelle_f%C3%BCr_Kriegsgefangene
    Die Kartei ist seit einiger Zeit auch im internet einsehbar https://grandeguerre.icrc.org/

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