1914-1918 – Die Entwicklung der Dinge

24.8.1914 Kampf um Namur

/ / 1. Vormarsch im Westen. 9.8.14 - 6.9.14

Viermaliger Stellungswechsel. Feuertaufe – 2 Verwundete. Nachtmarsch bis Ragnies de Thuin (Link zur französischen Wikipedia. 

Die Ruhe war nur von kurzer Dauer.

Bis 12 Uhr nachts musste ich auf Feldwache. Eine verteufelte Geschichte.

Solange im Biwak noch Leben und Treiben herrschte, verging die Zeit. Dann aber schlichen die Minuten dahin. Ringsum stockdunkle Nacht. Hier und da in der Ferne Feuerschein von brennenden Gehöften – vielleicht auch vom Nachtlager eigener oder fremder Truppen. Wie weit wir vom Feinde ablagen, konnte niemand sagen. Auf Überraschungen mussten wir jeden Augenblick gefasst sein.

Da dauerte es nicht lange, bis ich fast überhörig wurde. Raschelte und klapperte es irgendwo, so nahm ich die Knarre fester in die Hand. Drang ein ungewohnter Laut an mein Ohr, so lauschte ich gespannt, was sich weiter daraus entwickeln würde. Nie aber wusste ich recht, ob Freund oder Feind, ob Tier oder Mensch – oder gar nur der Wind die Ursache waren.

So konnte ich zu keinem rechten Entschluss kommen. Ein vorzeitiger Alarmschuss aus meinem Karabiner hätte die größte Verwirrung im Lager anrichten können. Eine Sekunde Verzögerung aber bedeutete vielleicht unser aller Untergang.

Schließlich war ich froh, als die Ablösung nahte – ohne dass sich besonderes ereignet hatte.

Aus dem so dringend notwendigen Schlaf wurde jedoch nichts, obwohl ich schon auf Wache die Augen gewaltsam aufreißen musste. Die Gedanken rumorten weiter. Die Pferde nicht minder. Sie standen, lose zusammengekoppelt, dicht zu unseren Häuptern und knabberten an unserem Lagerstroh herum. Immer wieder fuhr ich erschreckt hoch und wurde das Gefühl nicht los, als könnte mein Kopf plötzlich zu Brei zertrampelt werden.

Jetzt ist der nächtliche Spuk vorüber. Ich aber fühle mich wie zerschlagen.

Wir haben bereits 8 Uhr morgens. Vor einer halben Stunde verließen wir unser Lager und rücken nun etwa eineinhalb Kilometer vor.

Die 3. und 4. Batterie schießen unterdessen aus ihrer alten Stellung mit der äußersten Entfernung von 7500m weiter. Rechts von uns herrscht gleichfalls starkes Artillerie- und Infanteriefeuer.

Wahrscheinlich gilt es, heute den Übergang über die französische Grenze zu erzwingen. Ein gewagtes Unternehmen für uns, da wir an dieser Stelle nur 1 Armeekorps gegen den weit stärkeren Feind im Felde haben sollen. Dieser hat sich im Sambre-Tal festgesetzt. Wir erwarten jedoch jeden Augenblick 2 weitere Korps zur Unterstützung, um ihn hinaus zu werfen.

Halb 10 Uhr vormittags: Die Kraft des Gegners ist noch nicht gebrochen. Der natürliche Schutz des ganzen Geländes kommt ihm außerordentlich zu statten, während wir nichts unternehmen können, ohne von ihm erkannt zu werden.

Vor 1 Stunde eröffnete unsere Batterie das Feuer. In wenigen Minuten war die Antwort da. Auch unsere Beobachtung, die zunächst einen sehr aussichtsreichen Stand inne hatte, musste das Feld schleunigst räumen, da sie vom Feinde mit Schrapnells förmlich überschüttet wurde.

Noch schlimmer ging es der Feldartillerie. Ihre Beobachtung wurde im Handumdrehen in Klumpen geschossen.

Unsere Batterie hat die Geschütze inzwischen in Deckung gegraben. Nun liegen wir gemütlich beisammen, spielen Karten und warten der Dinge, die da kommen sollen.

Ich aber vertiefe mich in meine erste Feldpost aus der Heimat – einen Brief meiner Schwester aus Sachsen, abgesandt am 5.8. — Wie sehr sehnte ich mich bisher nach einer Nachricht aus lieben Händen. Der Brief löste echte Herzensfreude aus und entrückt mich für kurze Augenblicke dem Schlachtfelde.

3 Uhr Nachmittags: Die Hitze ist unerträglich. Wir spüren sie um so mehr, da wir seit Mittag wieder ununterbrochen knallen. Jedes Geschütz hat bis jetzt rund 60 Schuss verfeuert. (Entfernung zuletzt: 7200m)

5 Uhr Nachmittags: Der Feind wehrt sich noch immer verzweifelt. Auf unserer Beobachtung wurden durch sein Feuer 2 Mann (Kanonier St. und Leutnant H.) verwundet. Wir lassen aber nicht locker, sind inzwischen wiederum 1km voran gegangen und haben nunmehr zum 3. Mal Stellung bezogen.

Neben uns befindet sich die 1. Abteilung des Feldartillerie-Regiments 58.

Halb 8 Uhr Abends: Der heutige Tag stellte gewaltige Anforderungen an uns. Wir haben selbst aus unserer neuen Stellung ununterbrochen schießen müssen und lassen uns nun endlich die Rohre kalt werden.

Jetzt wissen wir auch, was “Kampf” heißt.

Zweimal mussten für jedes Geschütz rund 40 Schuss nachempfangen werden. Dass wir dabei einen schönen Batzen Fett verloren, steht außer Frage.

Bei alledem hatten wir mehr Schwein als Verstand. Was wir hinüberschickten, kriegten wir doppelt zurück. Der Feind merkte, dass es diesmal ums Ganze ging.

Kaum 50m vor unseren Geschützen schlugen seine Granaten und Schrapnells ein. Getroffen wurde zwar niemand; aber ein unheimliches Gefühl war es doch, als uns die Dinger sozusagen mitten ins Gesicht pfiffen und mit lautem Krach zerplatzten. Die Eisensplitter wurden in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Von einem Geschoss schlug ein losgelöster Zünder zwischen dem 2. und 3. Geschütz hindurch. Ein Unteroffizier konnte noch im letzten Augenblick beiseite springen. Und wir alle mussten uns mehr als einmal hinter unser winziges Stahlschutzschild am Munitionswagen ducken. Gegen einen Volltreffer wäre es zwar kein Schutz gewesen.  Dass es aber überhaupt da war, genügte schon, um das nach den ersten feindlichen Schüssen mit Macht anrückende Lampenfieber wieder zu verjagen.

Nur nicht sehen, wo die Dinger einschlugen. Ein Bogen Packpapier hätte unter Umständen vielleicht die gleiche Wirkung erzielt.

Wie lange wir nach dieser Kraftanstrengung jetzt noch untätig hier liegen, oder ob wir unsere Stellung heute zum 4. Male verlassen werden, ist mir nicht bekannt. In dieser ernsten Stunde aber sind meine Gedanken stärker denn je bei meinen Lieben daheim. Was wird uns die nächste Zukunft bringen?

Der nächste Beitrag erscheint am 25.8.