1914-1918 – Die Entwicklung der Dinge

Verletzung – Teil 4

/ / Nochmals nach dem Norden (Cambrai) 20.1.18-26.3.18

Doch uns traf der Schlag. Man fragte, ob ein verwundeter Offizier vorhanden sei — nein, so weit hatte es trotz mehr als vierjähriger Kriegstätigkeit anscheinend niemand von uns gebracht.

Oder sollte dennoch einer von ihnen auf den unzähligen Bahren liegen, der das Beschämende dieser Frage ebenso deutlich fühlte wie wir und lieber mit uns unerkannt weiter ausharren wollte?

Eine unpassendere Gelegenheit für eine solche Unterscheidung zwischen Hoch und Niedrig hätte ich mir jedenfalls kaum denken können.

Doch, was halfen auch diese Betrachtungen, was half der Jammer der um mich Liegenden und der eigene? Der Führer des Sanitätsautos und sein Begleiter störten sich nicht daran, machten kehrt und überließen uns unserem Schicksal.

Die Sonne zog unentwegt ihre Bahn. Schon war es Mittag. Wieder kam ein Krankenwagen. Wieder durften vier von uns abwandern.

Man brauchte kein Rechenkünstler zu sein, um festzustellen, wann unter solchen Umständen der Letzte von uns von seinen Qualen erlöst sein würde.

Indessen mehrte sich die Zahl der Verwundeten noch Stück um Stück – und die der Schwerverwundeten nicht minder.

Die eigenen Schmerzen wurden unerträglich. Ich griff schließlich zu einem Verzweiflungsmittel. Als um 5 Uhr nachmittags der vierte oder fünfte Wagen da war, biss ich nicht mehr die Zähne aufeinander, sondern heulte wie die anderen – heulte wie ein Kind. Das half!

Endlich war ich in dem Sanitätswagen – und sollte doch im gleichen Augenblick wieder heraus, weil wiederum ein anderer für schwerer verwundet gehalten wurde als ich. Ich nahm meine letzte Kraft zusammen und klammerte mich mit der linken Hand an dem Deckenbalken des Wagens fest. Nein, noch einmal zurück, das war zuviel.

Und nun ging die Höllenfahrt los. Auf den ausgefahrenen und mit Granatlöchern übersäten Wegen schaukelten wir bergauf und bergab. Jede leichte Erschütterung teilte sich unvermittelt der Wunde mit – bei jeder schwereren hörte ich die Engel singen.

Eine Viertelstunde später wurde ich schon wieder ausgeladen und in Marquion an einer Straßenkreuzung in eine Feldscheune gelegt. Ein mitleidiger Sanitäter schnitt mir den Stiefel von dem zerschossenen Bein. Mehr konnte er für mich nicht tun.

Erst um 6 Uhr abends holte mich mit anderen ein Sanitätsauto ab, das uns nunmehr in ununterbrochener Fahrt (über Raillencourt) bis nach Bouchain brachte. Hier wurde ich nachts 1 Uhr – also 19 Stunden nach meiner Verwundung – endlich in das Reserve-Feldlazarett 63 eingeliefert, sofort operiert und frisch verbunden.

Ich muss es mir versagen, in Worten auszudrücken, welche Pein sowohl die Autofahrt mir und meinen Kameraden, von denen – nebenbei bemerkt – einer eine schwere Rückenmarkverletztung erhalten hatte, als auch die Operation meiner Wunden – teils ohne und teils mit Narkose – bereitet hatte. Würde man vorher wissen, was der Mensch aushalten muss (auch ohne es zu müssen), man könnte sich getrost eine Kugel in den Kopf jagen.

 

Der nächste Tagebucheintrag folgt am 26.3.

  1. jetzt geht es wirklich ans Eingemachte. Man bekommt einen unbändigen Hass.

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  2. Die Tiefe der Details ist beeindruckend. Was alles so hinein spielt in einem Krankentransport. Andere Verwundete, schlechte zerstörte Straßen und der Deckenbalken im Wagen, da kann ein Krankentransport wirklich lang werden. Mit schweren Verletzungen kann es einem nicht schnell genug gehen. Da kann ich aus eigener Erfahrung nur zustimmen. Es wird immer besser mit dem Tagebuch, weil er noch besser (finde ich) schreibt als zum Anfang. Zum Anfang seiner langen Reise hatte ich mehrmals das Gefühl, dass es doch nur ein Tagebuch ohne weiteren Wert ist. So oft habe ich nur gelesen und gewartet bis es mehr Spannung gibt. Unglaublich! Der Wert des Tagebuches hat sich gesteigert.

    Gruß von Veith

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  3. Hochachtung für dieses Projekt.
    Meine Großväter,deren Brüder und die Brüder meiner Großmütter waren alle in diesem Krieg. Da aber keine Aufzeichnungen vorhanden sind und über diesen Zeitraum viele mündliche Überlieferungen verlorengegangen sind, kann ich den Wert dieses Tagebuches hochschätzen.
    Nach diesem Krieg ging es ja weiter. Mein Großvater z.B. war danach als Kriegsgefangener im Kohlebergwerk. Ein Jahr hat er keine Sonne gesehen. Morgens rein abends raus.

    Infolge diesem Krieg hatten wir ja den 2.WK.

    Dafür, daß ich durch dieses Programms die Mentalität in dieser Zeit miterleben durfte, möchte ich mich bedanken.

    Solche geschichtliche Nachlässe sind sehr wichtig für die Nachwelt

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  4. Von Inchy en Artois nach Marquion sind es nach der Routenführung von OSM ca. 6,5km bzw. 8 Minuten mit dem Auto. Eigentlich erstaunlich, dass der Transport so selten gefahren ist, wo doch damals die Fahrt auch nur 15 Minuten gedauert hat. Aber vermutlich gab es noch weitere Sammelplätze anzusteuern und das Ein- und Ausladen dürfte auch Zeit gekostet haben.

    Von Marquion nach Bouchain wird man durch OSM auch über Raillencourt geleitet. Heutzutage würde man die ca. 27km aber in knapp einer halben Stunde zurücklegen…

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